Lifestyle Bahnhofsviertel

Veröffentlicht von

Rotlichtviertel, Kriminalität, Bruchbuden. Im Vorfeld dieses Beitrags habe ich Euch gefragt, was Ihr schon von klein auf mit dem Hofer Bahnhofsviertel assoziiert. Ich wollte Klischees hören und habe sie bekommen. Und ja, ich gebe zu: Die eingebläute Meinung zu diesem Stadtteil habe auch ich bis heute mit mir herumgetragen. Doch was, wenn ich Euch sage, dass das Leben im Hofer Bahnhofsviertel inzwischen zum regelrechten Lifestyle geworden ist? Zu einem „kleinen Kreuzberg“, wie Sandra, von Bürger am Zug e.V. – dem Bügerverein des Bahnhofsviertels, es nennt? Lest heute vom „Lebensgefühl Bahnhofsviertel“, gelebtem Multikulti und wunderschönem Wohnraum.

Es ist erst 9 Uhr morgens, doch der Donnerstag zeigt sich bereits von seiner sonnigsten Seite. Ich sitze an der Sophienschule und warte auf Sandra Regalin, Mitglied des Bürgervereins des Hofer Bahnhofsviertels. Aus dem Schulfenster neben mir tönen Kinderstimmen und rythmisches Klatschen. Während mein Blick über den Wittelsbacher Park schweift, stelle ich fest, dass mein Wissen über diese Gegend ziemlich begrenzt ist.

Außer den genannten Vorurteilen weiß ich nämlich eigentlich nur noch, dass sich hier um die 30 Nationen versammeln und dass es tolle Altbauwohnungen gibt. Hier wohnen Ärztinnen und Ärzte, Schauspieler, großstadtliebende Singles, Kunstliebende und Intellektuelle. Kunstkaufhaus und das Galeriehaus gehören zum Bahnhofsviertel – beides Kneipen, in denen sich gesellige Freigeister treffen. Außerdem gibt es hier zuckersüße Innenhöfe und Balkone, von denen aus man über die ganze Stadt blicken kann. Gleichzeitig sammeln sich aber auch besonders einkommensschwache Haushalte am Brennpunkt Bahnhofsviertel. Auch Arbeitslosigkeit und Armut findet man hier. Doch wie gehen derart vielfältige Kulturen zusammen? Und wie kommt es, dass die Bewohner ihr Viertel hier so sehr lieben, dass sie sogar einen eigenen Verein dafür gegründet haben?

„Wenn ich an das Hofer Bahnhofsviertel denke, bekomme ich Gänsehaut“ (Sandra Regalin)

Sandra kommt fröhlich auf mich zu. Die 49-Jährige freut sich, dass unser Treffen klappt und das tue ich auch. Zwar weiß ich noch nicht genau, was mich erwartet, aber ich weiß, dass der Verein selbstlos tätig ist und somit jede Art von öffentlicher Aufmerksamkeit gebrauchen kann. Seit 2010 gibt es die gemeinnützige Organisation. Beate Franck, Lena Oberländer und Markus Richter heißen die drei Vorstände, wie ich erfahre. Meine Begleiterin selbst ist aktives Mitglied.

Mitte der 60er Jahre kommt Sandras Vater als Gastarbeiter nach Hof. Seit unglaublichen 40 Jahren lebt die AOK Mitarbeiterin deshalb nun hier. „Zwischen 21 und 31 Jahren hab ich’s auch mal in anderen Stadtvierteln und auch in anderen Städten versucht. Ich bin in diesen zehn Jahren ganze fünf Mal umgezogen. Dann bin ich wieder zurück gekommen.“

Die Rückkehr findet aus Überzeugung statt. „Es ist wirklich so, früher war mir das nie so bewusst, aber wenn ich an das Bahnhofsviertel denke, kriege ich echt Gänsehaut“, lacht die Frau kopfschüttelnd. Auch ihren Lebensgefährten, einen zugezogenen Bremer, lernt Sandra hier kennen. „Wir haben uns einfach dort vorne auf der Liebigstraße getroffen“, erzählt sie mir fingerzeigend. Dann beginnen wir unseren frühlingshaften Spaziergang.

Ein ganzes Stadtviertel als Wohnzimmer

Sofort fällt mir auf, wie sich Sandra durch die Straßen bewegt. Während ich mich dreimal umsehe, bevor ich zügig die Straße überquere, schlendert die Frau neben mir her, als müsse sie den Verkehr nicht checken, weil sie ohnhehin weiß, wer, wann, wo um die Ecke biegt. Während ich meine Fotos nur vom sicheren Gehweg aus schieße, zückt Sandra  ihr Handy mitten auf der Straße. Ruhen ihre Hände nicht in den Hosentaschen, grüßt sie die Anwohner nach allen Seiten. Ja, diese Frau fühlt sich hier eindeutig zu Hause. „Für mich ist das hier, als wäre ich in meinem Wohnzimmer“, bestätigt sie meinen Eindruck.

Wir sprechen über alte und erneuerte Gebäude. Über das Bordell, das die Hofer seit 30 Jahren als „Haus 63“ kennen. Über wilde Filmtagepartys, die früher im heruntergekommenen Gebäude neben dem Bahnhof stattfanden. Sandra erzählt mir von den vielen Gebäuden aus der Gründerzeit, vom Vereinsziel „Erhalt der historischen Bausubstanz“, den damit verbundenen Herausforderungen, aber auch von der engen Zusammenarbeit mit der Stadt. Optisch hat sich hier wirklich viel getan. Nicht nur das begehrte Fotomotiv „Luftbrücke“ ist hübsch anzusehen, auch die Hausfassaden versprechen ein gutes Leben. Sandra berichtet mir von weiteren Vereinsaufgaben.

„Hier wohnt zum Beispiel unsere Spielplatzbeauftragte. Sie ist schon um die 80 Jahre alt und sorgt für Ordnung auf den umliegenden Spielplätzen“, lächelt meine Begleiterin, während sie auf ein weißes Haus zeigt. Das würde ich gerne einmal live erleben! Aber auch sonst wurden interessante Aufgaben verteilt, die in unserer Stadt einmalig sind. Seit zwei Jahren gibt es zum Beispiel drei exklusive „Stadtteilkümmerer“ für das Viertel. Eine solche Kümmerin besuchen wir jetzt in ihrem Geschäft, Betten-Rausch.

Gelebtes Multikulti

Ute Rausch-Rauner, begrüßt uns herzlich in der Sedanstraße und bietet Kaffee und Sekt an. Die resolute Frau lacht oft – auch wenn sie über Sorgen spricht. Wir plaudern über Zuzug, Integration und Wertevermittlung. „Die Stadtteil-Kümmerer sind eigentlich entstanden, weil einige Leute Angst vor Flüchtlingen hatten“, erklärt sie mir. „Wir haben uns im Galeriehaus getroffen und darüber gesprochen. Die einen haben es verstanden, die anderen haben’s nicht verstanden. Und daraus resultierte dann – sozusagen als Abfederung – der Kümmerer.“ Ute gibt mir einen Flyer in die Hand. Ich lese, dass die drei Beauftragten bei Sorgen und Nöten, Ordnungswidrigkeiten, sozialen Missständen, Ruhestörungen oder wildem Müll ein offenes Ohr und einen direkten Draht ins Rathaus haben.

Ute gibt mir einen Einblick in ihre Aufgaben.  „Ein riesen Thema ist die Unordnung. Das ist eigentlich mit das größte Thema. Es kam zum Beispiel schon vor, dass Leute ihren Müll aus dem zweiten Stock auf die Straße oder in ihre Gärten schmeißen. Die Kümmerer gehen dann auf diese Leute zu, sprechen mit ihnen und händigen ihnen auch auf arabisch aus, dass der Müll hier grundsätzlich nicht aus dem Fenster geschmissen wird und wie man ihn entsorgt.“

Sandra klinkt sich ein und schwärmt von Kümmerer, Peter Reichel, der in diesem Amt wohl die meisten Aufgaben übernimmt. „Der ist halt auch unglaublich kommunikativ und geht einfach auf die Leute zu.“ Auch Sandra hatte mir zuvor schon von dem Müllproblem erzählt. Ich muss ein bisschen Schmunzeln, weil es nun mein Kopf ist, der ein Klischee-Bild produziert. Das vom stereotypen Dorfbewohner. Ich sehe einen erzkonservativen Choleriker vor mir, der den Wert eines Menschen daran festmacht, ob er ordentlich Rasen gemäht oder Fenster geputzt hat. Ich sehe ihn, wie er vom sonntäglichen Stammtisch heimläuft, plötzlich einen vermüllten Garten entdeckt, bedauerlicherweise einen Herzinfarkt erleidet und tragisch verendet. Jo. Passt vermutlich nicht jeder so gut hier her.

Die Stadtteilkümmerer aber legen Diplomatie und Pragmatismus an den Tag. Integrationsförderung sei schließlich eines der Vereinsziele. Durch aktives Aufeinanderzugehen, gemeinsame Aktionen und Kommunikation soll dieser Wunsch umgesetzt werden. Sandra räumt ein, dass es für Annäherung immer zwei Seiten brauche, diese aber nicht in allen Fällen gewünscht sei. Sie berichtet aber auch von ihrer jüngsten Begegnung mit einer religiösen Vereinigung türkischer Herkunft. „Das war total nett“, freut sie sich, „als ich ihnen von unserem gemeinsamen Frühjahrsputz im Viertel erzählt habe, meinten sie sofort, wir sollen auf jeden Fall Bescheid sagen, sie machen definitiv mit.“

Schöner Wohnen in Hof an der Saale

Aktive Verschönerung des Hofer Bahnhofsviertels findet allerdings nicht nur durch den Einsatz der Anwohner statt. Unsere nächste Station führt uns zu Makler und Hausverwalter, Ralf Schaumberg. Sandra sagt, das Viertel habe ihm einige der neuen, ästhetischen Hausfassaden zu verdanken. Doch nicht nur das äußere Erscheinungsbild habe der Anfang Fünfzigjährige mit seiner Arbeit verbessert. Auch das Innenleben der Häuser werte die Wohngegend auf.

In seinem Garten frage ich Ralf, was er hier eigentlich genau macht. „Das frag ich mich auch jeden Morgen“, scherzt er. Dann zählt er auf. „Hausverwaltung, Immobilienverkauf, Renovierung, eigene Immobilien, Zeitvertreib. Das ist, was man hier findet.“ Zwischen 2004 und 2005 fängt der Mann an, Eigentumswohnungen in Hof zu kaufen und verkaufen. „2006 hab ich dann gegen meinen ausdrücklichen Willen das Haus in der Roonstraße 22 gekauft“, schmunzelt er schulterzuckend. „Meine damalige Lebensgefährtin wollte das Haus unbedingt. Aber ich wollte nie hier her. Ich dachte: Bahnhofsviertel? Oh Gott, im Leben nicht!“ Wir lachen, weil dem Hausverwalter inzwischen 8 Häuser in dieser Gegend gehören. „Und es besteht die Gefahr, dass es mehr werden“, grinst er. „Naja, aber du hättest das damals schon sehen müssen, das sah hier noch aus wie Honkeytown“, erinnert er sich.

Heute kann man das wohl nicht mehr behaupten. Denn nicht nur Unternehmer wie er, auch die Stadterneuerung hat einiges an Aufwand betrieben, um komfortablen Wohnraum zu schaffen. Ralf berichtet von seinen hohen Ansprüchen an sich selbst. Er erzählt von seiner Bereitschaft, zunächst einmal zu investieren, bevor er seine Wohnungen zu einer relativ hohen Kaltmiete von um die 7,5o Euro anbietet. „Die Leute reißen sich aber drum“, berichtet er. „Weil sie den Charme erkennen und eben sehen, hier macht’s Spaß zu wohnen.“

Schnuckelige Innenhöfe, Wohnungen im Atelierstil, Altbau-Charme – auch das bietet unser Hofer Bahnhofsviertel also. Da ist es kein Wunder, dass sich hier inzwischen vermehrt statushöhere Einwohner tummeln. Dass diese Tatsache nicht für alle Bürger von Vorteil ist, weiß der Immobilienprofi. „Das ist hier im Kleinen eben vergleichbar mit dem, was in Großstädten passiert. Da findet Gentrifizierung statt“, erklärt er. „Für mich ist das natürlich gut, aber ich muss es ja auch von der geschäftlichen Seite sehen. Andere, die billigen, großen Wohnraum suchen, sind dann aber benachteiligt, weil den gibt’s halt dann nicht mehr.“

Verdrängung einkommensschwächerer Haushalte durch kaufkräftige Bewohner. Ein heiß diskutierter, komplexer Prozess, den ich hier gar nicht beurteilen kann. Was ich aber definitiv feststelle, ist die Tatsache, dass die eingangs beschriebenen Vorurteile längst nicht mehr gelten. Modernisierungsmaßnahmen haben die bunte, soziale Mischung in dieser Gegend herbeigeführt. Und dieses Gesellschaftsbild gefällt mir persönlich sehr gut.

Kleines Kreuzberg in Hof

Auf unserem Rückweg laufen meine Begleiterin und ich noch an der Stammkneipe des Vereins vorbei. „Im Kunstkaufhaus treffen wir uns jeden ersten Donnerstag im Monat. Jeder ist herzlich eingeladen, vorbei zu kommen und sich an der Diskussion zu beteiligen.“ Sandra berichtet außerdem von den Plänen, die Innenhofkonzerte im Viertel wieder aufleben zu lassen. Im kleinen, persönlichen Rahmen. Wir sehen noch die legendären „Altstadtspotzer“, dann ist unsere Führung zu Ende.

Ich muss zugeben, das Lebensgefühl der Bewohner hier hat mich – die eigentlich inmitten von Bauernhöfen wohnt – regelrecht mitgerissen. Die Vorstellung eines geselligen Sommers zwischen all den verschiedenen Menschen finde ich wirklich reizvoll. Das Hofer Bahnhofsviertel scheint nämlich alles zu sein: bunt, wild, intelligent, laut, schmutzig, wunderschön und einfach ehrlich.

„Ich sag immer kleines Kreuzberg dazu“, lächelt Sandra. Und das kann ich jetzt ziemlich gut nachvollziehen.

 

Euch interessiert die Arbeit von Bürger am Zug e.V. – dem Bügerverein des Bahnhofsviertels? Ihr lebt selbst im Hofer Bahnhofsviertel und würdet Euch gerne einbringen? Ihr habt Anregungen, Wünsche oder eigene Geschichten? Dann kommentiert diesen Beitrag, besucht Bürger am Zug bei Facebook oder im auf ihrer Website.

Ein Kommentar

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert